Diese Box sah bereits bei ihren Erscheinen so um 1970 aus wie "Good Old England" und heute noch mehr - mit sehr deutschem Inhalt. Das Teil hier hat im Laufe der Jahre rein äußerlich ein wenig gelitten, ist aber kaum zerstörbar, da recht massiv aus Holz (!). Und die Platten (22) sind ok, darauf kommt es schließlich an.
Knapp zehn Jahre von den ersten Probeaufnahmen 1957 bis zur "Walküre" 1965 (man hielt sich nicht an die chronologische Abfolge) hatten sich Decca-Produzent John Culshaw und ein noch kaum bekannter ungarisch-britischer Dirigent namens Georg Solti mit den Wiener Philharmonikern und einer Vielzahl der besten Wagner-Interpreten der Zeit an den vier einzelnen Opern des Nibelungen-Rings abgearbeitet. Aufgenommen wurde in zig Sessions im Wiener Sophiensaal in reiner Studioatmosphäre, also erstmals ohne Bühnengeräusche oder Laute aus dem Publikum. Für alle Platten zeichnet technisch im ZAL-Code Ted Burkett, angeblich der Beste unter den sowieso überragenden Decca-Ingenieuren, mit "G" (sein Kürzel) verantwortlich. Ein Meilenstein der Hifi-Geschichte. Der (analoge) Decca-Sound ist fürs Vinyl geschaffen, aber das ist Geschichte.
Trotzdem muss man sich die Entstehung des sog. "Solti-Rings" erst mal durch den Kopf gehen lassen, um diese auch für die Klassik irre guten Zeiten zu begreifen - schließlich begeistern uns heute noch die Platten. Nur kurz: Während die Rolling Stones in den Startlöchern standen, um das ganze große Ding bei Decca zu werden, überzeugte ein anderer Musikverrückter (Culshaw) dieselbe Decca, mit hohem Risiko Millionen in vier romantische und dazu noch deutsche (!) Opern fürs - zunächst mal - angelsächsische Publikum zu investieren, das zum größten Teil noch nie eines dieser Werke gehört oder gesehen hatte und dann die Audiospur dieser Opern kaufen sollte, sich das Theater dazu eben vorzustellen oder einfach nur die Musik genießen. Es funktionierte, auch dank Decca-"Stereo", und der Rest ist wiederum ebenfalls Geschichte.
Der sich abzeichnende Erfolg soll Karajan angetrieben haben, "seinen" (Salzburger) Ring endlich, von 1967 bis 1970, abseits der Bühne ebenfalls als reine Audio-Studioproduktion für die Schallplatte in der Berliner Jesus-Christus-Kirche zu realisieren - übrigens die feinste, stellenweise kammermusikalische, Interpretation des Rings, die es gibt. Gleichzeitig dirigierte das zweite deutsche Schwergewicht, Karl Böhm, ab 1965 in kongenialer Zusammenarbeit mit Regisseur Wieland Wagner den Ring in Bayreuth, wovon dann (natürlich!) auch eine schöne große LP-Box mit der Gesamtaufnahme erschien. Man wollte sich in Deutschland Kompetenz und Einnahmen des einträglichen Wagner-Konserven-Geschäftes (ist es etwa keines?) nicht wegnehmen lassen. Mit Karajan/Böhm hatte man sozusagen erfolgreich gegen die Briten zurückgeschlagen, aber trotzdem seit Solti eine musikalische Referenz im Nacken, an der jede neue Ring-Interpreation und -Aufnahme bis heute gemessen wird.
Tipp: wer sich den Hörmarathon mal antun will - die deutschen Pressungen der Decca, hellblaues Label oder DMM, sind preislich meist recht günstig, die originalen englischen Pressungen mit fettem "ffss"-Sound relativ teuer, klingen aber auch wesentlich besser. Ich hatte mir erst die deutsche Ausgabe zum Reinhören zugelegt und dann, weil mir's gefiel, die englische Box gekauft.
Viele Grüße - Frank