Danke Ulf für das Einstellen meiner beiden Demovideos! Diese enthalten relativ einfache Beispiele als Einstieg für durchschnittliche Youtuber, von denen die meisten die „goldenen“ Analogzeiten nicht miterleben durften (oder mussten, je nachdem).
Tatsächlich ist das Musikbeispiel (Bach, 6. Partita e-moll BWV 830, 1. Satz „Toccata“ mit Glenn Gould) die erste Aufgabe, die ich seit 1978 „meinen“ Tutanden der Düsseldorfer Toningenieurausbildung als Schneideübung gab. Damals habe ich schlicht eine vorhandene LP-Einspielung nachträglich wieder in – mehr oder weniger schwierig zu montierende – Sequenzen zerschnitten. Ausgesprochene Gemeinheiten (Schnitte mitten innerhalb schneller oder chromatischer Läufe, schwer zu analysierenden Tonartenmodulationen etc. hatte ich damals für spätere „Lernschritte“ reserviert.)
Das Sprachbeispiel besteht aus willkürlich zusammengestellten Versprechern (zumeist
www.radiopannen.de entnommen). Bei der Tontechnikerausbildung der vormaligen SRT (= Schule für Rundfunktechnik, Nürnberg) wurde zum Einstieg in praktische Schneidetechniken ein spezielles Übungsband verwendet, das aus Wörtern bestand, aus denen man einzelne Buchstaben so herausschneiden konnte, dass als Resultat ein komplettes ABC entstand. Leider habe ich dieses Band nie kopieren können, also habe ich ein eigenes zusammengestellt, das für „meine“ Tutanden ebenfalls als Übungsmaterial diente. (All dieses „Spielmaterial“ habe ich mittlerweile digitalisiert und kann es hier zur Verfügung stellen, falls jemand mal Zeit und Lust haben sollte, sich selber an Übungen in der hohen Kunst des „blutigen“ Bandschnitts zu versuchen.)
Zum Mehrspurschnitt: Ich bewundere die Fähigkeiten meines US-Kollegen uneingeschränkt. Bei einigen Major Labels im Bereich der sog. E-Musik, bei denen bzw. für die ich arbeiten „durfte“ (hauptsächlich EMI, Decca, Teldec, DGG, Philips Classics) war Mehrspurschnitt allerdings eher unüblich. Hier wurde entweder während der Aufnahme direkt auf Senkel abgemischt (vor allem, wenn es sich nicht gerade um große Orchester-, Opern- oder Oratorienwerke handelte, die häufiger auf Haupt-Stützanordnung bzw. Multimikrofonierung hinausliefen) oder zuerst von Mehrspur auf Senkel abgemischt und dann geschnitten.
Wovon ich früher immer wieder munkeln hörte (aber auch im Videobeispiel leider nicht zu sehen bekomme), war diese legendäre „Guillotine“ für Mehrspuraufnahmen, die geradezu unanständig teuer gewesen sein muss und ein ähnliches Resultat lieferte wie eine Zickzack-Stoffschere. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie aufwendig ein solches Gerät herzustellen gewesen sein muss. Wie gesagt, ich habe nie ein Exemplar sehen, geschweige denn bedienen dürfen – mitunter habe ich sogar geglaubt, dass es womöglich nur eine Tonmeisterlegende sein könnte. Falls ich je ein Bild eines solchen Monstrums zu sehen bekommen könnte, wäre ich sehr dankbar.
Zurück zum eigentlichen Schnitt: Hier gab es sehr unterschiedliche Techniken. Die meines vor knapp 10 Jahren verstorbenen zweiten Mentors Johann-Nikolaus Matthes war auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich, aber sehr wirksam. Hier die Beschreibung eines „Insertschnitts“ (solche Begriffe wurden später aus der Videotechnik übernommen) in seinen posthum erschienenen, leider unvollständigen Memoiren:
Ganz wichtig ist die Organisation der Schnittreihenfolge. Ich habe für mich ein System entwickelt, was zunächst recht zeitaufwendig erschien, aber letzten Endes viel Zeit sparte. Als verantwortlicher Producer höre ich noch einmal alle Takes, die ich verwenden will, vor dem Schneiden an und lege die letzten Korrekturen bei den auszuführenden Schnitten in den Noten fest. Am Ende dieses Vorgangs habe ich ja das Band, welches von links nach rechts bei der Wiedergabe läuft, komplett auf dem rechten Wickel aufgespult. Beim nun folgenden Zurückspulen lege ich für jeden benötigten Take einen eigenen „Bobby“ an und beschrifte ihn mit der Takenummer.
Das anschließende Schneiden kann dann beispielsweise so aussehen: Takt 1 bis 3 kommt von der zweiten Gesamtfassung, es wird also der Bobby mit der Nummer 2 auf die Maschine gelegt und der Anfang des Satzes gesucht, sauber geschnitten. Das heißt, dass Ansagen und Störgeräusche auf einem zweiten Bobby mit der Nummer 2 bleiben, der die nicht benötigten Teile enthält, und ein neuer Bobby bildet den Anfang des Originals, vor dessen Beginn ein Vorlaufband geklebt wird. Nun soll im dritten Takt auf Zählzeit 3 in die Korrekturaufnahme 24 gegangen werden. Also suche ich den Ausstieg aus der Gesamtfassung 2, lege die beiden Wickel mit der Nummer 2 auf die Ablage und beginne mit der Korrektur 24. Nach ungefähr drei Sekunden Spielzeit bin ich in dem Korrekturtake 24 bei Takt 3, suche den Einstieg und füge die beiden Teile aneinander. In Takt 4 brauche ich wieder die zweite Gesamtfassung, also lege ich die beiden Bobbys mit der Nummer 2 wieder auf die Maschine, höre das zusammengeklebte Band ohne die fehlenden Anfangstakte, und finde nach zwei Sekunden den erneuten Schnittpunkt in der zweiten Gesamtfassung, und so weiter und so fort.
Das System klingt im Prinzip einfach, doch bei einer Aufnahme, die aus 65 Takes mit 120 Schnitten zusammengesetzt werden soll, bin ich schließlich von 130 Bobbys umgeben, hoffentlich alle ordentlich und eindeutig beschriftet. Mit dieser Methode spare ich sehr viel Zeit. Es gibt Kollegen, die wahre Artisten beim Hin- und Zurückspulen von Bändern sind und geradezu blind zu den jeweils erforderlichen Takes navigieren können – doch einerseits kostet das relativ viel Zeit, andererseits ist die Gefahr, doch in eine falsche Wiederholung zu geraten, extrem groß, beispielsweise bei Beethovens Scherzi, wenn der A-Teil des Satzes mehrfach vorkommt.
Diese Beschreibung wird mit einigen Erläuterungen vielleicht verständlicher:
In Matthes’ Schnittsystem wird zunächst jeder nummerierte Take einzeln auf einen eigenen Bobby gespult. Zu jedem Take gehören zwei Bobbys, einer für die Abwickelseite [L], einer für die Aufwickelseite [R], die entsprechend beschriftet werden (Beispiel: 1L und 1R). Die Schnittfassung liegt auf einem separaten Bobby (bezeichnet mit „F“ für „fertig“).
Im erwähnten Beispiel ist Take 2 die zweite Gesamtfassung und Take 24 eine Korrektur. Ab Takt 3 Zählzeit 3 soll Take 2 ersetzt werden durch Take 24, ab Takt 4 wieder zurück in Take 2.
Auf den Abwickelteller kommt der Bobby von Take 2 [2L], auf den Aufwickelteller der Bobby von Take 2 [2R]. In Kurzschrift: Links 2L, rechts 2R auflegen. Die übrigen Schritte sind wie folgt:
Vorspulen bis Modulationsanfang – Schnittpunkt einstellen, markieren, Schnitt – Rechts 2R wegnehmen und beiseite legen – Rechts F auflegen – 3 m Vorspannband an den Anfang von 2L kleben, in F einfädeln – Abhörkontrolle
Wiedergeben bis zum ersten Schnittpunkt in Takt 3 Zählzeit 3 – Schnittpunkt einstellen, markieren, Schnitt – Beide Bobbys wegnehmen, F in Griffweite, 2L zu 2R legen
24L & 24R auflegen – Vorspulen / wiedergeben bis zum selben Schnittpunkt in Takt 3 Zählzeit 3 – Schnittpunkt einstellen, markieren, Schnitt – 24R beiseite legen
Rechts F auflegen – Anfang von 24L an Ende von F kleben – Abhörkontrolle – Suchen des nächsten Schnittpunktes in Takt 4 – Schnittpunkt einstellen, markieren, Schnitt – 24L & F beiseite legen
2L & 2R auflegen, die beiden losen Enden zusammenkleben – Schnittpunkt in Takt 4 suchen, Schnittpunkt einstellen, markieren, Schnitt
2R beiseite legen, rechts F auflegen – Anfang von 2L an Ende von F kleben, Abhörkontrolle
Das sind natürlich nur die „basics“. Spannend wird es, wenn es um Schnitte geht, die eigentlich unmöglich sind, z.B. in liegenden Tönen, bei Klarinetteneinsätzen in tiefen Lagen v.a. im pianissimo (wegen ihrer extrem langen Einschwingzeit hört man sie beim Einstellen des Schnittpunkts kaum, sodass man fast immer zu spät schneidet, was bei normaler Wiedergabegeschwindigkeit unweigerlich auffällt), minimale Intonationsunterschiede zweier Fassungen bei einer Kammermusikproduktion, nicht zusammenpassende Dynamik- oder Agogikverläufe, Orgelaufnahmen in halligen Kirchen, komplex komponierte Sätze im Orchester, wo irgend eine Stimme immer den Ton durchhält, etc. pp.
Eines der grundsätzlichen Probleme beim Stereoschnitt – das spocintosh in einer anderen Auswirkung schon angedeutet hat – besteht darin, dass beide Spuren zu unterschiedlichen Zeiten geschnitten werden, es sei denn, man hätte den sog. „Schwalbenschwanzschnitt“ (also Zickzack) verwendet, den ich aber nur für längere Überblendzeiten gesehen und angewendet habe, wobei diese Schnitte „freihändig“ durchgeführt wurden, da es dafür definitiv kein Gerät gab.
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Zum Abschluss meines zugegeben länglichen Romans eine praktische Episode und ein paar Bilder, die vielleicht mehr vermitteln als 1000 Worte.
Bei der Produktion in 1983 von Beethovens „Großer Fuge“ op. 133 (Spieldauer 15:31) mit dem Alban Berg Quartett fielen über 135 Takes an, und die erste Fassung enthielt etwa 400 Schnitte. (Das originale Masterband habe ich heute noch, wegen der zahlreichen Schnitte war der Wickel so unrund geworden, dass die Folienüberspielung nur mit einer M 10 „klappte“.) Trotzdem musste nachproduziert werden, weil die Musiker mit dem Ergebnis immer noch nicht 100%ig zufrieden waren. Eines der Kuriosa dieser Produktion bestand darin, dass die Musiker Schnitte an Stellen hörten, wo keine waren (was mir nach stundenlangem Schneiden aufgrund von Gehörsermüdung gelegentlich auch so ging), jedoch Schnittstellen, mit denen ich selber unzufrieden war, anstandslos durchwinkten. So kann es manchmal gehen …
Diese Bilder von 1974 zeigen Klaus Matthes beim Schneiden auf einer Telefunken T9u (Motto von EMI und ihrer späteren Tochter Electrola bis zum seligen Ende: „Was funktioniert, reicht“):
Schließlich eine Einführung von 1979 in „Steno für Aufnahmeleiter“. Diese Markierungen waren in europäischen Schallplattengesellschaften und Rundfunkanstalten bis etwa 2000 üblich, seit Einführung des Hard-Disc Recordings gibt es hier kaum noch Einheitlichkeit mehr:
![[Bild: Partiturnotizen-Seite-5.gif]](https://i.postimg.cc/66Dcd0QS/Partiturnotizen-Seite-5.gif)